„Die besten Argumente der Welt können die Meinung einer Person nicht ändern. Das schafft nur eine gute Geschichte."
So gesagt von einem der Protagonisten einer Geschichte, die gut genug ist, um Meinungen – und vielleicht die Welt – zu verändern. The Overstory verwebt die im Entstehen begriffene Wissenschaft und Philosophie des Biozentrismus mit traditionellen Mythen und neu entstehenden Legenden unserer digitalen Kreationen, alles erhellt und erkundet durch mehrere menschliche Narrative. Das Resultat bietet uns einen bitter notwendigen alternativen Pfad in die Zukunft, der von Beziehungen statt von Ausbeutung geprägt ist; von der Befriedigung von tatsächlichen Bedürfnissen statt von der endlosen Jagd nach der Erfüllung von künstlich erschaffenen Wünschen.
Andere Rezensent*innen (wie Barbara Kingsolver) haben bereits über den literarischen Wert dieses Buches gesprochen. Wie von einem Autor, der seit Jahrzehnten große Preise gewinnt, zu erwarten ist, ist Powers Prosa exzellent und fesselnd. Die Geschichte baut sich langsam auf, während Powers ihre Wurzeln wachsen lässt, indem er eine Person nach der anderen einführt. Die Minibiografien sind an sich schon fesselnd, aber wirklich interessant wird es, wenn sie einander durchkreuzen. Es ist schwer für uns kurzlebige Menschen, eine Zeitperspektive zu verstehen, die exponentiell größer ist als unsere eigene, aber der geduldig aufgebaute Bogen, der mehrere Generationen umfasst, drängt die Leserin oder den Leser darauf, auf der Zeitskala von Wäldern zu denken.
Unsere Kultur hat ihre Vorherrschaft in einer Zeitspanne aufgebaut, die die Lebensdauer einiger Bäume nicht übersteigt, ein winziger Moment in der Geschichte des Planeten. Unser Niederfall wird vermutlich noch schneller vonstatten gehen, da unser kollektiver Unwille, in Beziehung mit dem Rest der Einwohner*innen der Welt zu leben, nicht nur den Industrialismus, sondern hunderttausende von Spezies zum Aussterben verdammen und die Welt für Millionen Jahre verarmt zurücklassen wird. Powers sieht den darin inhärenten Wahnsinn klar und deutlich. Er schreibt mit einer Leidenschaft, Verzweiflung und Wut, die der Krise angemessen sind (wenn auch abgemildert von Ehrfurcht gegenüber den Wundern, die wir heute um uns sehen, der Möglichkeit, sie zu beschützen, wenn wir handeln, und dem Trost, den die Genesung des Lebens in der fernen, fernen, fernen Zukunft bietet.)
In vielerlei Hinsicht ist dies die Antithese von T.C. Boyles A Friend of the Earth. Beide Bücher drehen sich um die praktischen und moralischen Aspekte der Frage, wie man angemessen auf eine Gräueltat nach der anderen reagieren kann, die der Umwelt angetan wird. Eine Antwort darauf ist Ökosabotage zwecks planetärer Selbstverteidigung. Aber wo Boyles Buch nihilistisch ist und wenig überzeugende Charaktere bietet, die oft von kleinlichen anthropozentrischen Zielen motiviert sind, schreibt Powers acht realistische Reisen von Leuten, die Bäume letztendlich respektieren, sogar lieben. Alle bringen Opfer für ihre nicht-menschlichen Verwandten, manche riskieren sogar ihre Freiheit oder ihr Leben. Einige sind vollkommen biozentrisch, erkennen an, dass Bäume intelligente soziale Wesen sind und weisen die Idee der menschlichen Einzigartigkeit zurück.
Powers stellt die Entscheidung, in den Untergrund zu gehen, auf mitfühlende Weise dar und macht es damit einfach zu verstehen, warum die Aktivist*innen in seinem Buch, wie auch die im wahren Leben, eskalieren und sich illegalen Taktiken zuwenden. Da das System so geschaffen wurde, dass Widerstand vereinnahmt und entmächtigt wird, und Übung darin hat, demokratische Prozesse zu umgehen und Protest brutal zu unterdrücken, wird jeder, der nennenswerte Veränderungen erreichen will, dazu gezwungen, außerhalb des Rahmens der akzeptierten und erwarteten Taktiken zu denken. Leider ist hier, wie auch in A Friend of the Earth, die Ökosabotage ineffektiv, weil sie von einer Zermürbungsstrategie eingeschränkt wird und nicht kritische Infrastruktur als Ziel hat. Das Genre der Ökofiktion braucht immer noch eine Geschichte über strategisch vorgehende Aktivist*innen, die eine Kettenreaktion von Ausfällen herbeiführen, indem sie die fossilen Energien lahmlegen.
Die Aktionen von Powers Protagonist*innen umfassen nicht nur Blockaden und Ökosabotage, sondern auch wissenschaftliche Forschung, Kunst, Landsanierung, Psychologie und die Nutzung von künstlicher Intelligenz. In dieser bunten und diversen Mischung kann jede/r etwas finden, was ihn oder sie anspricht. So wird die Leserin oder der Leser eingeladen, sich im wahren Leben am Kampf zu beteiligen und die eigenen wie auch immer gearteten Fähigkeiten und Interessen einzubringen. Woran The Overstory wirklich gemessen werden wird, ist nicht, ob es auf Bestsellerlisten kommt, von Kritiker*innen gelobt wird oder literarische Preise gewinnt, sondern ob es Leser*innen motiviert, aktiv zu werden:
Menschlich zu sein bedeutet, eine überzeugende Geschichte mit einer bedeutsamen zu verwechseln und das Leben mit etwas Riesigem auf zwei Beinen. Nein: Das Leben wird auf einer viel größeren Ebene mobilisiert und die Welt zieht genau deshalb den Kürzeren, weil keine Geschichte den Kampf um die Welt so einnehmend wirken lassen kann wie den Kampf zwischen ein paar verlorenen Leuten. Aber Ray braucht Fiktion heute so sehr wie jeder andere auch. Die Held*innen, Bösewichte und Statisten, die seine Frau ihm heute Morgen gibt, sind besser als die Wahrheit. Ich bin zwar nicht echt, sagen sie, und nichts, was ich tue, macht einen Unterschied, aber dennoch lasse ich alle Entfernungen hinter mir, um neben dir zu sitzen, dir Gesellschaft zu leisten und deine Meinung zu ändern.
Vielleicht ist es wahr, dass sogar die besten Argumente keine Meinungen ändern können. Wenn das so ist, dann ist das, was wir alle, menschlich oder nicht, am meisten brauchen, eine Geschichte, die es kann. The Overstory könnte diese Geschichte sein.
Lies ein langes, nachdenkliches und tiefgründiges Interview mit Richard Powers (auf englisch): Here’s to Unsuicide