Bei direkter Aktion zugunsten von sozialer und Umweltgerechtigkeit werden Taktiken wie Besetzungen und Blockaden bevorzugt. Diese sind normalerweise vor allem symbolisch; ihre Anwendung im Kontext einer Zermürbungsstrategie verringert ihre materielle Wirksamkeit. Baumbesetzer*innen schaffen es manchmal, ein noch bestehendes Waldstück in einer ansonsten kahlgeschlagenen Mondlandschaft zu retten. Pipelineblockierer*innen schaffen es manchmal, ein Projekt für ein halbes oder ein ganzes Jahr aufzuhalten, bis die Polizei sie räumt und das Bauprojekt abgeschlossen wird. Occupy Wall Street führte zu Enthusiasmus und globaler Aufmerksamkeit, aber das Machtungleichgewicht zwischen dem reichsten Prozent und den anderen 99 % hat sich verschlimmert.
Das Unist’ot’en-Camp war anders. Eine Handvoll Mitglieder des Unist’ot’en-Clans der Wet’suwet’en, die auf dem Land leben, das Kanada heute als British Columbia bezeichnet, blockierten den Bau von sieben Teersand- und Schiefergas-Pipelines von 2011 bis 2018. Sie mussten dafür nicht einmal ihr Zuhause verlassen, sie besetzten einfach - das ganze Jahr über, in Vollzeit - ihr Land, das genau auf den GPS-Koordinaten der geplanten Pipelines lag. Sie begannen, indem sie in eine Jagdhütte zogen, die dort liegt, wo der Clan seine Fallen aufstellt. In den darauf folgenden Jahren bauten sie zusätzliche Räume an die Hütte an und richteten ein Erdhaus, eine Schlafbaracke und ein Heilzentrum ein. Sie rundeten ihre traditionellen Subsistenzaktivitäten durch einen Garten und einen Erdkeller ab.
Diese Taktik war aus mehreren strategischen Gründen ungewöhnlich erfolgreich:
Das bergige Terrain ist ein natürlicher Engpass, der nur eine begrenzte Anzahl möglicher Pipelineverläufe zulässt. Die Pipelines können nicht einfach umgeleitet werden, damit sie das Camp, oder mehr noch, das ganze Territorium der Unist’ot’en umgehen.
Nur eine einzige Straße führt in das Gebiet, was die Verteidigung der Grenze relativ einfach werden ließ. Die Unist’ot’en nutzten diesen Engpass, um mögliche Besucher*innen an einer einspurigen Brücke aufzuhalten und zu überprüfen, und wiesen unwillkommenes Regierungs- und Konzernpersonal ab. Ein heimliches Eindringen durch die Luft war genauso schwierig; die wenigen Male, die Bautrupps per Helikopter eingeflogen wurden, wurden diese gesichtet und vertrieben.
Die Unist’ot’en haben ihr Land nie an Kanada abgetreten. Da der Clan die Besitzrechte am Land behalten hatte, mussten sich Pipeline-Konzerne des Risikos bewusst sein, dass die Polizei und das kanadische Militär ihre Interessen eventuell nicht durchsetzen würden.
Historisch betrachtet haben rechtliche Details kanadische und andere koloniale Regierungen selten davon abgehalten, zu tun und zu nehmen, was sie wollten, aber als die Unist’ot’en ihre physische Infrastruktur aufbauten, bauten sie gleichzeitig Solidaritätsnetzwerke mit anderen Indigenen und mit Mitgliedern der kanadischen Siedler*innenkultur auf. Da es weitläufige Unterstützung an der Basis für die Unist’ot’en gab, mischte sich die Regierung zunächst nicht ein, bis sie im Januar 2019 mit militärisch bewaffneter Polizei angriff, die zu tödlicher Gewalt bereit war. (Im Februar 2020 fand ein weiterer Angriff statt, was zu landesweiten Blockaden von Häfen, Autobahnen und Zuglinien führte. Teile von Kanadas Wirtschaft wurden wochenlang lahmgelegt, was zeigt, warum die Regierung das Camp so viele Jahre verschont hatte.
Es ist unmöglich, genau zu sagen, wie viele Leute und Ressourcen notwendig waren, um den Erfolg der Unist’ot’en-Blockade sicherzustellen. Über die Jahre beteiligten sich hunderte von Besucher*innen und Freiwilligen an Arbeits- und Aktionscamps und Unterstützer*innen spendeten bis zu eine halbe Million Dollar in Form von Bargeld und Vorräten. Ein Großteil der Aktivitäten und des Geldes wurde dafür eingesetzt, Siedler*innen zu informieren, medizinische Vorhaben zu unterstützen und Bürger*innen und Aktivist*innen aus der Siedlerkultur mit indigenen Widerstandskämpfer*innen in Netzwerken zu verbinden. Diese Arbeit spielte eine untergeordnete Rolle im Vergleich zur Blockade selbst, aber ohne die resultierende breite Unterstützung für die Besetzung hätte die Regierung diese vielleicht schon viel früher gewaltsam beendet.
Relativ wenig Zeit und Geld waren notwendig, um die Kerninfrastruktur für die Blockade zu errichten und aufrecht zu erhalten. Vielleicht ein halbes Dutzend indigene Einwohner*innen moderierten die durchgehend notwendigen Aufgaben wie beispielsweise den Checkpoint an der Brücke zu bewachen, nach Eindringversuchen durch die Luft Ausschau zu halten, das Camp durch Subsistenzaktivitäten zu versorgen und Treffen und Vorträge gegen die Pipelines zu organisieren. Teilweise taten sie dies selbst, teilweise koordinierten sie bis zu einem Dutzend Vollzeitfreiwillige.
Bevor ihr Territorium durch die RCMP eingenommen wurde, blockierte diese winzige Gruppe 8 Jahre lang mehrere Pipelines. Sogar 2019 und 2020 fanden nur an Transcanadas Coastal-Gaslink-Pipeline Bauarbeiten statt, und Chevron zog erst 2021 in Erwägung, den Bau der Pacific-Trail-Pipeline wieder aufzunehmen. Das Unist’ot’en-Camp ist ein erstklassiges Beispiel für maximalen Effekt durch minimalen Aufwand.
Das Volk der Wet’suwet’en kämpft weiterhin vor Gericht gegen die Pipelines, aber mit geringen Chancen, in einem System zu gewinnen, das zum Wohl von Konzernen und Profiten manipuliert ist. Vermutlich können nur weitere „unkonventionelle“ Aktionen den Bau der Pipelines endgültig aufhalten.
Es ist irreführend, das Camp als „zivilen Ungehorsam“ zu bezeichnen, da sein Erfolg auf dem rechtlichen Anspruch des Clans auf das Territorium beruhte. Keine andere Kampagne des zivilen Ungehorsams im Dienste der Umwelt hat vergleichbaren Erfolg gehabt, weil die Polizei derartige Kampagnen immer schnell überwältigt hat. Wir sollten uns vom Unist’ot’en-Camp inspirieren lassen, aber auch realistisch bleiben und uns fragen, wo ähnliche Taktiken erfolgreich angewandt werden könnten.
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